Unsere Interpretation des historischen Schwertkampfs
Oberste Prämisse ist es, selbst unverletzt zu bleiben. Wenn zwei Fechter in einem Zweikampf aufeinandertreffen, dann werden sie nicht ungestüm vorpreschen (= Ausfall), sondern sich zunächst in einer sicheren Distanz zueinander positionieren. Sie werden sich umkreisen und belauern, um erste Informationen über den Gegner zu sammeln (= Zufechten). Sie werden dabei auf eine günstige Gelegenheit (= geöffnete Blöße) warten, um einen Angriff unter einigermaßen kalkulierbarem Risiko zu wagen.
Es geht nicht darum, den Gegner in einem „Ausfall“ durch die erste Fechtaktion (also den ersten Hieb oder Stich mit Schritt) zu treffen – dazu sind die Fechter im Zufechten viel zu weit voneinander entfernt.
Sondern es geht bei der ersten Fechtaktion primär darum, die Distanz zu verkürzen, um den Gegner in einer weiteren Fechtaktion mit der Reichweite der eigenen Waffe überhaupt erst treffen zu können. Dann befindet sich der Angreifer aber auch in Reichweite der gegnerischen Waffe. Um sich zu schützen, muss er deshalb auch die Angriffslinie schließen. Dies erfolgt mit einer Waffenbewegung (Hieb oder Stich) in die Angriffslinie, um diese zu versperren und sich somit zu decken.
Zweck der ersten Fechtaktion ist somit zum Einen die Verkürzung der Distanz, um in Waffenreichweite zu gelangen (= in die mittlere Mensur), und zum Anderen, sich dabei zu schützen, also mit der Waffe eine Deckung aufzubauen.
Erst dann kann – aus dieser verkürzten Distanz heraus – in einer zweiten Fechtaktion der eigentliche Angriff erfolgen, mit dem Ziel, den Treffer beim Gegner zu setzen, ohne selbst getroffen zu werden.
Der Gegner wird aber genauso versuchen, sich zu schützen. Entweder wird er dazu ausweichen, um die sichere Distanz wiederherzustellen (i.e. wieder zurück in eine weite Mensur zu gelangen). Oder er wird sich in der verkürzten Distanz schützen, indem er seinerseits ebenfalls mit einer Waffenbewegung (Hieb oder Stich) die Angriffslinie schließt (= Deckung). In diesem Fall kommt es unweigerlich zum Klingenkontakt (= Band), weil beide Angriffslinien als kürzeste Verbindung zwischen den Fechtern ja identisch sind.
Nun beginnt der Krieg, der Kampf im, bzw. um das Band. Beide Fechter versuchen, das Band zu gewinnen, d.h. die Angriffslinie für sich zu öffnen, indem sie die gegnerische Deckung beseitigen oder umgehen, um ungehinderten Zugang zum Ziel zu erlangen (= beim Gegner eine Blöße zu öffnen). Ist dies erreicht, folgt die entscheidende zweite Fechtaktion: Der Kämpfer nutzt die geöffnete Blöße des Gegners, um seinen Treffer anzubringen. Gleichzeitig muss er dann aber während der Ausführung dieses Treffers verhindern, selbst eine eigene Blöße zu öffnen, in die wiederum die Waffe des Gegners hinein trifft (Eigenschutz). Andernfalls kommt es zu einem Doppeltreffer.
All dies (Erstens: nahe zum Gegner in die Reichweite der eigenen Waffe gelangen, Zweitens: Eigenschutz und Drittens: den Gegner treffen) kann nur erreicht werden, wenn die eigene Waffe die Angriffslinie kontrolliert. Das bedeutet, dass sich die eigene Waffe zwischen Angriffslinie und der gegnerischen Waffe befinden muss, diese also nach außen (seitlich) abdrängt und ihr so den Weg zurück zur Angriffslinie versperrt (= die gegnerische Waffe versetzt).
Diese Erkenntnis hat erhebliche Konsequenzen auf die Art des Fechtens – es eröffnet eine völlig neue Betrachtungsweise. (Stichworte: Distanz, Initiative, Fechtzeiten, Fühlen im Band). Und seither funktionieren die in den historischen Fechtbüchern beschriebenen Techniken nicht mehr nur in den Drills, sondern auch im Kampf!